Soziale Arbeit als Vertreterin ressourcenschwacher Interessen? 

Dr. Laura Einhorn, Technische Hochschule Köln

 

 

 

Präsentation

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Abstract

 

Unter dem Begriff „Governance“ wird in der politik- und verwaltungswissenschaftlichen Forschung das Zusammenwirken von staatlichen und nicht-staatlichen Akteur:innen in (relativ) hierarchiearmen Netzwerkstrukturen jenseits der klassischen top-down-Perspektive auf politische Entscheidungsprozesse (Adam & Kriesi 2007) verhandelt. Lokale Governance fokussiert äquivalent dazu die Governance-Beziehungen im lokalen Kontext, an denen unterschiedliche öffentliche und zivilgesellschaftliche Akteur:innen teilhaben (Möltgen-Sicking 2019). Dabei wird die Frage aufgeworfen, ob in Governance-Prozessen alle gesellschaftlichen Gruppen und Interessen gleichermaßen Gehör finden können (z.B. Clement et al. 2010, von Winter 2019). Eher ressourcenschwache oder marginalisierte Interessen erfahren „eine relative Benachteiligung in der politischen Interessenkonkurrenz, die aus einer Minderausstattung mit den für die Artikulations-, Organisations-, Mobilisierung- und Durchsetzungsfähigkeit notwendigen sozialen Eigenschaften resultiert“ (Winter & Willems 2000: 14).


Hier setzen unter anderem Überlegungen zum politischen Handeln Sozialer Arbeit an – international auch verstanden als ‚policy practice‘ (Gal & Weiss-Gal 2013). Auch der von Günter Rieger eingebrachte Begriff der ‚Sozialarbeitspolitik‘ beschreibt die politischen Aktivitäten Sozialarbeitender und bezieht sich dabei ursprünglich hauptsächlich auf die kommunale Ebene (Rieger 2018). Sozialarbeitende können sowohl als Lobby für ressourcenschwache und marginalisierte Gruppen auftreten und damit ihre Repräsentation in politischen Entscheidungsprozessen stärken als auch ihre Adressat:innen bei der politischen Selbstvertretung unterstützen. Sie kennen die Interessen ihrer Adressat:innen durch die Einzelfallhilfe in besonderer Weise und wissen um sozialpolitische Umsetzungsprobleme. Auf Basis dieses wichtigen Erfahrungswissens können die Rahmenbedingungen des eigenen professionellen Handelns und die Lebensbedingungen der Betroffenen verbessert werden (Leiber & Leitner 2021). Somit übernimmt die Soziale Arbeit nicht nur Hilfe im Einzelfall, sondern handelt strukturell auf sozialpolitischer, gesellschaftlicher und diskursiver Ebene (Leitner & Schäfer 2022).


Die Wohlfahrtsverbände gelten in dieser Debatte klassischerweise als Institution der Sozialen Arbeit, der neben dem Erbringen sozialer Dienste (u.a.) auch eine Lobbyfunktion einnimmt. Besonders auf kommunaler Ebene sind die Verbände eng mit staatlichen Institutionen verflochten und bilden so auch kommunal das deutsche Modell des Wohlfahrtskorporatismus ab (Heinze et al. 2018). Neben den Wohlfahrtsverbänden können allerdings auch weitere Akteur:innen Sozialer Arbeit Einfluss auf Politik nehmen; freie Träger oder Vereine, Betroffenengruppen und ggf. auch individuelle Sozialarbeitende. Wie sich die Soziale Arbeit als politische Akteurin im Einzelfall darstellt ist dabei eine empirische Frage und hängt sowohl vom zu untersuchenden Politikfeld als auch vom politischen und gesellschaftlichen Kontext ab (von Winter 2019).


Anhand einer konkreten Fallstudie soll die Rolle der Sozialen Arbeit als Interessenvertreterin für ihre Adressat:innen innerhalb eines kommunalen sozialpolitischen Reformprozesses beispielhaft nachgezeichnet werden. Dabei wird dargestellt, welche Akteur:innen Sozialer Arbeit an den Aushandlungsprozessen beteiligt waren, welche Koalitionen von ihnen eingegangen und welche Strategien zur politischen Einflussnahme angewandt wurden sowie ob diese nach subjektiver Einschätzung im Sinne einer anwaltschaftlichen Interessenvertretung erfolgreich gewesen sind. Zum Abschluss soll mit Blick auf die Rahmenbedingungen sozialpolitischen kommunalen Handelns kritisch reflektiert werden, inwieweit individuelle und kollektive Akteur:innen Sozialer Arbeit dem hehren Anspruch einer politischen Lobbyarbeit im Sinne ihrer Adressat:innen tatsächlich gerecht werden können.


Referenzen


Adam, Silke; Kriesi, Hanspeter (2007): The Network Approach. In: Paul A. Sabatier (Hg.): Theories of The Policy Process. Cambridge: Westview Press,
              S. 129–154.


Clement, Ute; Nowak, Jörg; Ruß, Sabine; Scherrer, Christoph (2010): Einleitung: Public Governance und schwache Interessen. In: Ute Clement, Jörg
              Nowak, Christoph Scherrer, Sabine Ruß-Sattar und Sabine Russ (Hg.): Public Governance und schwache Interessen. 1. Aufl. Wiesbaden: 
              VS Verl. für Sozialwiss, S. 7–25, zuletzt geprüft am 23.05.2022.


Gal, John; Weiss-Gal, Idit (Hg.) (2013): Social workers affecting social policy. An International perspective. Bristol: The Policy Press.


Heinze, Rolf G.; Schmid, Josef; Sesselmeier, Werner (Hg.) (2018): Neue Governancestrukturen in der Wohlfahrtspflege. Wohlfahrtsverbände zwischen
              normativen Ansprüchen und sozialwirtschaftlicher Realität. 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos (Wirtschafts- und Sozialpolitik, Band 19), zuletzt
              geprüft am 04.08.2022.


Leitner, Sigrid; Schäfer, Stefan (2022): Die Vertretung von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen im Gesetzgebungsprozess. In: WSI 75 (1), S.
              20–28. DOI: 10.5771/0342-300X-2022-1-20.


Möltgen-Sicking, Katrin; Winter, Thorben (Hg.) (2019): Governance. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.


Rieger, Günter (2018): Sozialarbeitspolitik und Soziallobbying. In: Klaus Grunwald und Andreas Langer (Hg.): Sozialwirtschaft: Nomos
              Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, S. 769–780.


Willems, Ulrich; Winter, Thomas von (2000): Politische Repräsentation schwacher Interessen. Opladen: Leske + Budrich.


Winter, Thomas von (2019): Schwache Interessen in Gesellschaft und Staat. In: Katrin Toens und Benjamin Benz (Hg.): Schwache Interessen? Politische
              Beteiligung in der Sozialen Arbeit. Weinheim: Beltz, S. 26–35, zuletzt geprüft am 11.11.2022.